Ende der Welt
Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen
Teil VII: Die Tunnel von Kirowsk
Kirowsk. Di, 20.08.2002
Der Morgen beginnt mit kräftigen Schauerwolken, kurzzeitig sorgen ein
paar Sonnenstrahlen für interessantes Licht.
Northern Lightshow zum Frühstück. Blick aus dem Hotelzimmer.
Frühstück. Thomas verzichtet
mittlerweile darauf. Ich finde es immer nett, die Damen geben sich
viel Mühe, für Abwechslung zu sorgen. Manche Speisen sind allerdings
etwas gewöhnungsbedürftig, Kascha etwa, eine Art Buchweizengrütze.
Verhandlungen mit der Administratorin (bißchen so der Klischeetyp einer
damenbärtigen Russin, aber ganz nett) führen. Die Pässe wurden beim
Einchecken einkassiert, wegen Registrierung. Da lagen sie dann gut, erst
war die Administratorin nicht da, dann war keine Zeit, usw. Man meint
aber, es sei harmlos, und niemand würde sich an unseren fehlenden Pässen
stören, und wenn, sollten wir sagen, wo sie seien. In der Tat, Di oder Mi
bekommen wir die Pässe samt Stempel wieder, und niemand sonst wollte sie
sehen.
Noch ein bißchen mehr zum Hotel: außer mit der Adminstratorin und
der alten Dame, die die Nachtdienste macht, haben wir noch mit zwei
Frauen zu tun, die die eigentlich Arbeit machen. Kochen (d.h.,
unser Frühstück; Abendbrot hätte es auch auf Bestellung gegeben,
aber das nehmen wir nie). Auch unsere Wäsche bekommen wir von ihr
gegen ein kleines Entgeld gewaschen und gebügelt zurück.
Zu Fuß durch die Stadt, das Wohngebiet im Osten derselben. Immerhin
gibt es einen "Sport-Express" vom Vortag am Zeitungskiosk. Hansa ist nach
zwei Spieltagen und zwei Siegen Tabellenzweiter.
Zwei Kilometer östlich der Stadt ist der Betriebsbahnhof der Werkbahn,
dahinter eine kleine Siedlung. Dort gibt es eine neue Kirche, recht
interessant eingerichtet. Die Werkbahn teilt sich in drei Äste zur
Bedienung der verschiedenen Bergwerke: der linke führt um den Berg ins
Bergwerk bei der Siedlung am km 25. Dieser Ast ist nicht (mehr)
elektrifiziert; es fahren nur Arbeitszüge. Der rechte (Haupt)ast führt
zweigleisig durch ein Tal zum Bergwerk Raswummtschorr, wobei stellenweise
beide Gleise etliche hundert Meter auseinanderliegen. Der mittlere Ast
führt auch nach km 25, aber durch den Berg durch, d.h. durch einen 2km
langen Tunnel!
Wanderung ins Tal. Thomas hatte am Sonnabend schon mal geguckt, und
keinen Weg gefunden. Ich habe die entscheidende Idee, wo der Weg
langgehen könnte, führe das Reisekollektiv dahin, und wundere mich
dann, daß das Restreisekollektiv diesen Weg auch ernsthaft zu gehen
wünscht! Aber da muß ich nun durch. Thomas sucht einen speziellen
Tunnel: den, der im Lok-Report-Reiseführer abgebildet ist, und nach
dem Fotografen im internen Slang fortan "Tempeltunnel" heißt.
Nach gut einem Kilometer erreichen wir den Südmund des langen
Tunnels nach km25, und stellen fest, daß das nicht der Tempeltunnel
und zudem schlecht zu fotografieren ist. Daneben ist noch ein
weiterer Tunnel, der anscheinend mal einer kleinen Grubenbahn o.ä
diente.
Weiter hinten im Tal finden sich noch nette Fotomotive; nur die Sonne
fehlt. Ansonsten: nette Landschaft, mit verstreuten Industrie- oder
Bergwerksruinen.
Zurück. Florian und ich machen uns in einem alten Minibus auf den
Weg zur Siedlung "km 25". Beim Ansinnen, ein Cafe oder eine Kantine
zu finden, wo man etwas essen kann, scheitern wir, weil wir außer
einer Bierstampe und diversen Läden nichts finden. (Kurz vor dem
Ende hätte es doch etwas gegeben).
Die Siedlung "km25" beherrbergt das älteste Bergwerk der Region von 1929.
Ins Museum. Pantoffeln über die
Schuhe ziehen.. Man erfährt einiges über die Geschichte vom
Bergwerk und der Stadt von 1929-45, und vom Leben von Kirow, ein
wenig personenkultig. Die Zeit nach '45 fehlt völlig .... Klar, so
viel Geld, ihre Geschichte neu zu schreiben, werden die wohl nicht
haben.
Irgendwie hat aber dieses ganze Museum auch was rührendes.
Zurück in die Stadt, und einem Bistro in Igors Neubaugebiet gibts
was zu essen.
Abends treffen wir uns mit Igor am Bus und fahren zum
Betriebsbahnhof. Er hat mit Sergej, einem Gleitschirmfliegerfreund
von ihm, eine Besichtigung organisiert.
Freundliche Begrüßung vom Lokführer auf der Werkbahn.
Wir hoffen auf eine
Lokmitfahrt, doch die erfüllt sich aus Platzgründen (die Lok dient
nämlich als Personenzug für die Bahnmitarbeiter im Bergwerk) nur
für einen. Das ist natürlich Thomas. Auf gehts, mit WL22 1993+2030.
Ohne Wagen hintendran. Abschiedsfoto von der davonfahrenden Lok;
immerhin ist die Abendsonne 'rausgekommen.
[Betriebsbahnhof Juksporr - Raswummtschorr - Betriebsbanhof,WL2030+1993]
Bericht von Thomas
"Über die vordere Plattform geht es hinein
durch die Fronttür in den Führerraum. Hier ist schon viel Betrieb,
vier weitere Fahrgäste sind schon an Bord, dazu Lokführer und
Beimann. Ein Pfiff und schon rumpeln wir los. Unser Ziel ist
irgendwo da hinten, im Berg Raswumtschorr, so richtig weiß ich
nicht wo. Doch zunächst geht es das Tal entlang, immer am
Felshang. Die tiefstehende Sonne taucht alles in herrliche Farben,
dass erste Herbstlaub ist hier im hohen Norden schon im August zur
Stelle. Nach 10min rasanter Fahrt der Tunnel! Zwei Röhren
nebeneinander, wir halten. Fahrgastwechsel. Einige am Gleisrand
stehende Gestalten steigen zu, ein Pfiff und weiter geht es. Wir
sind drin, im Berg, im Bergwerk.
Einfahrt ins Bergwerk, Blick aus der Lok in die Tunnel.
Was sich hier bietet kann man kaum
beschreiben, Stollen zweigen ab, Weichen, ein Tunnel kommt von
links, dann wieder verschwindet wieder ein Gleis nach rechts. So
geht es mehrfach. Irgendwann der nächste Halt an einem Stollen.
Eine Dame verschwindet im Seitenstollen. Wo mag sie wohl hingehen?
Weiter. noch 5min Fahrt, dann taucht ein erleuchteter
Tunnelabschnitt vor uns auf, eine Beladeanlage. Und plötzlich war
die Fahrt zu Ende. Die letzten Fahrgäste verschwinden. Wieder ein
Seitenstollen, allerhand Gerät steht abgestellt. Alles ist in ein
gelbes Licht gehüllt. Nun bin ich mit Lokführer und Beimann allein.
Das kann alles nicht wahr sein, tief in einem russischen Bergwerk
hoch im Norden des Kontinents stehen zwei uralte Elloks im Tunnel,
Beimann und Lokführer und ich mitten drin. Keine Zeit zum
Nachdenken, Fotos machen!
Eine unterirdische Beladeanlage im Bergwerk Rasswummtschorr.
So richtig bewußt wird es mir erst zu
Hause am Diaprojektor werden. Und dann schnell Lok- und
Führerestandswechsel, schließlich muß die Rückfahrt nach Fahrplan
verlaufen! Nun ist es WL22M-1993. Und abfahren. Der Führerstand ist
mit allerhand Fotos verziert, Individualität eben. Ob hier jeder
Lokführer seine eigene Lok hat?
Noch schnell ein Blick auf die Armaturen, rechts ein großer
Schalthebel und ein Handrad, alles massives Stahl, oben eine
einzige Armatur, der Geschwindigkeitsmesser. Er steht nun wieder
bei 50km/h es schaukelt ganz schön. Wir haben neue Fahrgäste an
Bord und das Bergwerk wieder verlassen. Gegen 19:20Uhr sind wir
zurück am Ausgangspunkt, der tägliche Personenzug hat seinen Dienst
erfüllt. Nun gibt es wieder Apatit zu befördern..."
Ende Bericht
Igor, Florian und ich besichtigen derweil ein altes Bergwerk.
Nach der Rückkehr dürfen auch wir die Lok besichtigen. Netter Lokführer
und man macht diverse Photos. Dann koppelt die Lok wieder an einen
Güterzug an. Mit leeren Wagen, Ri. Bergwerk: Und während wir noch
sinnieren, was wir nun machen: kommt die Einladung: weil es nun ein
richtiger Güterzug ist und keine "echten" Passagiere vorreserviert haben,
gibt's noch eine Lokmitfahrt, diesmal für alle!
[Betriebsbahnhof Juksporr - km 25 Mitte-Ende Tunnel, WL2030+1993]
Diesmal geht es auf den anderen Ast, von der Hauptstrecke ab, und
es geht 'rein in den langen Tunnel nach links, Richtung "km 25".
Das Fahrgefühl in diesen Stollen hat Thomas ja schon eindrücklich
beschrieben. Ich kann es nicht besser. Diese Fahrt und namentlich
ihr Ende gehören zu den nachhhaltigsten Eindrücken der Reise.
Als wir nach fast 2km dann das Licht am Ende des
Tunnels sehen, denken wir es geht nun wieder raus. Aber nein. Zur
Überraschung der nichtzahlenden Fahrgäste links ab. Die
Überraschung wächst, als die Fahrt ein Stückweiter plötzlich endet.
Nicht nur die Fahrt, auch das Gleis, und sogar der ganze Tunnel!
Nichts geht mehr. Die Tunnelwand wird von der Lok angestrahlt..
Vor uns ein Prellbock, dahinter eine Wand. Stockdunkel, bis auf die
Lokscheinwerfer. Man heißt uns, auszusteigen. Der Zug setzt
irgendwohin zurück, vermutlich in eine unterirdische Ladeanlage.
Und für uns öffnet sich eine kleine Tür, die uns in den Haupttunnel
führt. Über die Gleise der Hauptstrecke ins Freie, eigentlich viel
zu schnell. Phantastisch.
Wir sind nun mitten im Bergwerk, aber in Igors Begleitung rechnen wir
nicht mit Ansch- oder gar Rausschmiß. Gleich hinter dem Tunnel ist
ein tiefes Loch, 60m oder so. Fasznierend. Durch das Werk zur Siedlung.
Ein Bus fährt nun gerade nicht, aber Igor spricht einen Autofahrer
an, der uns zum Bustarif in die Stadt fährt.
Im Fernsehen: russische Freiwillige, die mit Kamas-Lastern nach Magdeburg
auf den Weg sind, den Flutopfern zu helfen.